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Digitalisierung kann Museen nachhaltiger und gerechter machen

Für die erste Ausgabe unserer neuen Essay-Reihe im Art Düsseldorf Magazin haben wir eine Auswahl von Autor*innen gebeten, sich mit Fragen zum Thema Nachhaltigkeit in der Kunstwelt auseinanderzusetzen. Dieser Essay von Aditya Iyer, einem in London lebenden Journalisten, befasst sich mit der Notwendigkeit, die Digitalisierung als Instrument zu nutzen, um sowohl der Klimakrise als auch der langen Geschichte des Kolonialismus in Kunstinstitutionen zu begegnen.

Im Zuge der Auseinandersetzung von Kunst mit dem Klimawandel und der Suche nach innovativen Wegen, um den CO2-Fußabdruck zu verringern, ist für Museen die Technologie zu einem zentralen Faktor für eine nachhaltige Zukunft geworden. Die Reduktion von Museums-Emissionen mag auf der Prioritätenliste recht weit unten stehen, solange Konzerne mit fossilen Brennstoffen arbeiten und auf der Jagd nach Profiten im Ölgeschäft weiterhin stinkenden Smog in den Himmel blasen, aber Museen sind öffentliche Kultureinrichtungen: Ihr Umgang mit und ihre Haltung zu Umweltfragen kann ein öffentliches Narrativ vermitteln, das ebenso stark ist wie das kulturelle Narrativ, das durch die Artefakte, die sie beherbergen, repräsentiert wird.

Ende 2022 erklärte Chris Michaels, der Direktor für digitale Technologie von der britischen National Gallery, dass sich der Museumssektor bei der Anpassung an die Klimakrise in einem „positiven Momentum” befinde. Der Schlüssel zu diesem Momentum? Die Digitalisierung und die damit einhergehenden Veränderungen in der Erzählpraxis und der kuratorischen Praxis von Museen. Michaels bezog sich darauf, wie Technologien im Bereich der virtuellen Realität und Konzepte wie das Metaverse genutzt werden können, um die Interaktion des Publikums mit den Museen zu verändern.

Die Möglichkeiten sind vielfältig: Das National Museum of African American History & Culture hat im November 2021 digitale Nachbildungen seiner Museumsräume vorgestellt, um seine Reichweite zu erhöhen. Das über Smartphones und Tablets leicht (und kostengünstig) zugängliche Searchable Museum ergänzt das traditionelle Publikumserlebnis, indem es wichtige Ausstellungen und interaktive Informationsdisplays nachbildet und so in einigen Fällen eine digitale Erweiterung der Besucher*innenerfahrung bietet. Museumsbesucher*innen vor Ort können eine Nachbildung der Point of Pines Slave Cabin besichtigen; das digitale Gegenstück geht noch einen Schritt weiter und bietet Zugang zu einer virtuellen 360-Grad-Ansicht der Hütte. Dennoch sollten wir nicht automatisch davon ausgehen, dass alle Digitalisierungsmaßnahmen ein Allheilmittel gegen den Klimawandel sind – oder dass sie automatisch eine Umwälzung darstellen, wenn sie kaum etwas am Status quo ändern. Oft weisen sie einfach wieder auf die wachsende Profitgier des Marktes hin und repräsentieren vor allem eine weitere Möglichkeit, mit durchaus fragwürdiger Technologie Geld zu verdienen.

NFTs werden wahrscheinlich nicht die Grundlage für einen grüneren Museumssektor bilden, aber das Prinzip der Digitalisierung und der virtuellen Sammlungen bietet trotzdem einen Weg zur Nachhaltigkeit.

Mitte 2021 hat das British Museum den durchaus umstrittenen Schritt unternommen, seine Sammlung mit nicht-fungiblen Tokens (NFTs) zu digitalisieren. Die Institution, deren digitale Strategie zum Teil von Michaels geprägt wurde bevor er im Jahr 2017 ausgetreten ist, begründete ihre Entscheidung damit, dass sich die Museen anpassen müssen, um „neue Märkte [zu erschließen] und neue Wege zu finden, um Menschen zu erreichen, die wir über traditionelle Kanäle vielleicht nicht erreichen”.

Über die fragwürdigen finanziellen Netzwerke, die hinter den NFTs stehen, wurde bereits ausführlich geschrieben. Man kann argumentieren, dass sie den Kunstsektor entwerten, aber die Umweltkosten ihrer Erstellung waren zunächst von noch entscheidenderer Bedeutung. Die NFT-Partnerschaft des British Museum mit LaCollection hat dazu geführt, dass der CO2-Fußabdruck des Museums in den ersten sechs Monaten des Programms um 315 Tonnen CO2 gestiegen ist, so die Schätzungen der Website Digiconomist zum CO2-Fußabdruck einzelner Ethereum-Transaktionen. Das Bild wird düsterer, wenn man die Kohlenstoff-Tracking-Website Aerial heranzieht, die schätzt, dass die NFTs zusätzliche 995 Tonnen CO2-Emissionen verursacht haben. Die Ethereum-Plattform hat ihre Prozesse im September 2022 inzwischen von einem Proof-of-Work-Modell auf ein Proof-of-Stake-Modell umgestellt, was zu einem erheblichen Rückgang des Energieverbrauchs geführt hat.

Der gesamte Kohlenstoff-Fußabdruck mag insbesondere diejenigen überraschen, die das ehrgeizige, 1 Milliarde Pfund teure “Rosetta-Projekt” des Museums kennen, mit dem die Sammlungen und der Standort so modernisiert werden sollen, dass die Kohlenstoffemissionen auf Null sinken. Der anfängliche Schock dürfte jedoch schnell verfliegen, wenn man sich klar macht, dass die derzeitige Umweltpolitik des Museums nur aus einer einzigen Seite besteht, die seit 2007 nicht mehr aktualisiert wurde – und dazu noch die fragwürdige Beziehung des Museums zu British Petroleum.

Es ist kaum anzunehmen, dass NFTs die Grundlage für einen umweltfreundlicheren Museumssektor werden, auch wenn sich die dahinter stehende Technologie in Bezug auf die Energieeffizienz inzwischen weiterentwickelt und verbessert, nachdem die hohe CO2-Bilanz von Krypto-Plattformen kritisiert wurde. Das Prinzip der Digitalisierung und der virtuellen Sammlungen bietet dennoch einen Weg zur Nachhaltigkeit. Nicht nur in Bezug auf den Klimaschutz, sondern auch in Bezug auf eine radikale Neukonzeption des Museums, das sich von seinen kolonialen Ursprüngen befreit.

Diese Philosophie findet sich bei Digital Benin wieder. Das Ende 2022 eröffnete virtuelle Depot erfasst alle Artefakte, die Ende des 19. Jahrhunderts von marodierenden britischen Kolonialtruppen aus dem Königreich Benin geraubt wurden. Die Soldaten, die ausgesandt wurden, um das Benin-Königreich und  seine Bevölkerung zu zerstören, betonten ihre ungeheuerliche Gewalttätigkeit noch, indem sie kulturelle Artefakte gestohlen haben, die nach dem Verkauf an private Sammler*innen schließlich ihren Weg in westliche Museen fanden.

A snapshot of Digital Benin's online catalogue of over 5,200 artifacts. Credit: Digital Benin Catalogue.

An example image of one of the artifacts cataloged in Digital Benin's online archive. Credit: Digital Benin Catalogue.

Viele dieser Artefakte werden nun dorthin zurückgebracht, wo sie rechtmäßig hingehören. Beispielsweise hat das Berliner Humboldt-Forum im vergangenen Jahr einige der Bronzen aus seiner Sammlung an Nigeria zurückgegeben. Digital Benin ist ein Verzeichnis westlicher Museen, die noch immer geraubte Bronzen aufbewahren, und gleichzeitig ein unverzichtbares digitales Archiv für Forschende und Besuchende. Anstelle der von westlichen Museen verwendeten Sprachen, welche die Verbindung zum kulturellen Kontext entwurzelt, zeigt Digital Benin die historischen Objekte mit ihren korrekten Bezeichnungen aus der Edo-Zeit an und widerlegt damit die Vorstellung, dass das Fachwissen der Kultur, die diese Artefakte hervorgebracht hat, dem ihrer westlichen Gegenstücke unterlegen ist.

Wie Aime Cesaire in seinem wegweisenden Werk „Über den Kolonialismus” von 1950 schrieb, beruhen die abscheulichen Metzeleien des Imperialismus „auf der Verachtung der Eingeborenen und wurden durch diese Verachtung gerechtfertigt”. Die Entstehung und Entwicklung des modernen Museums war untrennbar mit dieser Legitimation verbunden, da es als Gefäß für die koloniale Macht diente. Raubgüter wurden als „Artefakte” ausgestellt; ihre gewaltsame Umsiedlung war ebenso ein Zeichen westlicher Kriegsführung wie die klinischen Plakate, mit denen sie ihren angeblich überlegenen Intellekt zur Schau stellten.

Museen beherbergten mehr als nur die Beute kolonialer Eroberungen; neben anderen Objekten enthielten einige sogar menschliche Überreste. Diese Praxis erinnert an das Erbe der Zoos, die mit „lebenden Ausstellungen” von Menschen, die als ethnisch minderwertig galten, der Öffentlichkeit bestimmte Narrative präsentierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet diese Praxis inverruf, da sich Europa zum ersten Mal seit der Kolonialisierung den grausamen Folgen einer Abgrenzung von Bevölkerungsgruppen als “minderwertig” bewusst wurden. Es dauerte jedoch einige Zeit, bis das Unbehagen zu einer offenen Verurteilung überkochte. Der letzte Menschenzoo in Europa wurde 1958 geschlossen, fast ein Jahrzehnt nachdem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte die „gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen” anerkannt hatte.

Ein CO2-neutrales Museum hat wenig Sinn, wenn es immer noch den Zwecken dient, die zu einer grausamen Zeit geschaffen wurden.

Um wirklich nachhaltig zu sein, müssen Kunstinstitutionen unter Nachhaltigkeit mehr als nur den Umweltschutz verstehen.Sie müssen mehr tun als nur die Belüftung zu verbessern und energieeffiziente Lagermöglichkeiten für Beutekunst zu finden, wie es das Bizot Green Protocol vorsieht. Die Digitalisierung der Sammlungen muss Hand in Hand mit der Rückgabe der kolonialen Beute und einem umsichtigen Umgang mit ihr  gehen, um die Museen kulturell nachhaltig für das 21. Jahrhundert zu machen. Wie Chao Tayiana Maina, Gründerin des African Digital Heritage Project und eine der für Digital Benin verantwortlichen Beraterinnen, sagte, sollte die Digitalisierung „als kuratorischer [und] kultureller Prozess […] betrachtet werden, der die Gesellschaft, die Ethik und die Gemeinschaft in den Blick nimmt, um uns zu ermöglichen, Fragen zu stellen, anstatt nur Daten zu sammeln.” Letztere sind unpersönlich und gesichtslos und können potenziell zu einer anderen Art der Ausbeutung führen, indem sie gewissermaßen virtuelle „Beute” schaffen. Aufrufe zur Erstellung digitaler Repräsentationen jedes Artefakts scheinen oberflächlich betrachtet harmlos zu sein; was aber, wenn die besagten Objekte heilig und für die spirituellen Praktiken einer lokalen Gemeinschaft von grundlegender Bedeutung sind, deren Zustimmung höchstwahrscheinlich nicht eingeholt wurde, bevor ein 3D-Modell für ein Online-Publikum erstellt wurde?

Einer der wertvollsten Aspekte des Projekts Digital Benin besteht darin, dass es das Wissen von Edo-Expert*innen über den kulturellen Kontext und die Funktionen der einzelnen Artefakte sammelt. Indem es die grundlegend ungleichen Machtstrukturen aufbricht, die die traditionellen kuratorischen Erzählungen der Museen repräsentieren, führt es zu einem neuen Diskurs über die Artefakte, die Kulturen, denen sie entnommen wurden, und ihre Rollen und Werte. Wie Maina ebenfalls feststellte, durchbricht die Technologie die traditionellen Gatekeeping-Bereiche und Machtsysteme, indem sie als Instrument für die Artikulation neuer Narrative und als Plattform für den Zugang zu neuen Zielgruppen dient.

Der Versuch, den Kunstsektor nachhaltig zu gestalten, muss sich auf seine eigene problematische Geschichte ebenso konzentrieren, wie auf seinen CO2-Fußabdruck. Ein CO2-neutrales Museum hat wenig Sinn, wenn es immer noch den Zwecken dient, die zu einer grausamen Zeit geschaffen wurden. Museen haben die Möglichkeit, mehr zu tun, als nur den CO2-Fußabdruck von Ausstellungen zu verringern, die zu denselben ausbeuterischen Erzählungen der Vergangenheit beitragen. Indem sie erkennen, wie sie der Umwelt in der Vergangenheit geschadet haben, haben die Institutionen begonnen, Schritte zu unternehmen, um ihre ökologischen Auswirkungen in der Zukunft zu mindern. Diese Instrumente sollten jedoch nicht nur für den Klimawandel eingesetzt werden, sondern können und müssen auch in Hinblick auf die Menschenwürde eingesetzt werden. Nur dann können Kunstinstitutionen eine wirklich nachhaltige und gleichberechtigte Zukunft für alle aufbauen.

Aditya Iyer ist ein in London lebender Journalist und Schriftsteller, der über die Schnittstellen von Kultur, Identität und öffentlichem Gedächtnis schreibt und sich dabei auf die Frage konzentriert, wie die koloniale Geschichte die heutige Welt weiterhin prägt.

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