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Tiina Itkonen’s Reisen in Schnee und Eis

Wie das Sassuma Arnaa Tiina Itkonen nach Grönland brachte.

Tiina Itkonen hat ihre Kamera schon immer auf Grönland gerichtet. Seit 1995 reist die finnische Künstlerin in die entlegenen Gebiete des Landes, um die Landschaften und die verschiedenen Bewohner zu fotografieren. In dieser Zeit hat sie über 1.500 Kilometer zurückgelegt – mit Hundeschlitten, Segelbooten, Hubschraubern und Öltankern – und dabei die Sehenswürdigkeiten und Geschichten der grönländischen Bevölkerung festgehalten.

Mit ihrem anthropologischen Blick hat Itkonen nicht nur Schnappschüsse der Bewohner eingefangen, sondern auch die Veränderungen der natürlichen Umwelt über einen Zeitraum von fast 20 Jahren dokumentiert. So belegen ihre Arbeiten nicht nur persönliche Erfahrungen in Eis und Schnee, sondern sind auch ein starkes und eindrucksvolles Plädoyer für den Klimaschutz. Ihre Fotoserien haben Besucher*innen der 54. Venedig Biennale, des Danish National Museum of Photography, des Kunstmuseums Wolfsburg und an vielen andere Orten in ihren Bann gezogen.

Neben ihrer fotografischen Tätigkeit hat Itkonen auch an der Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft geforscht. Seit Jahren arbeitet sie zusammen mit der Polarforscherin Dr. Kristin Laidre und der Schriftstellerin Susan McGrath an der Serie “Piniartoq (Hunter)”, die die Beziehungen und Zusammenhänge zwischen Eisbären, Menschen, Gemeinschaften und dem Klimawandel erforscht. Ihr Ziel ist es, zu zeigen, wofür wir im Kampf gegen die Klimakatastrophe kämpfen.

Kürzlich sprachen wir mit der Künstlerin darüber, was sie zu ihrer fotografischen Beziehung zu Grönland inspiriert hat, was sie vom Volk der Inuit gelernt hat und welche schrecklichen Folgen der Klimawandel hat.

Tiina Itkonen. "Home 11, Kuummiut", 2017. From the series "Home". Archival pigment print, framed. 60 x 85 cm. © the artist. Courtesy: Persons Projects.

Sie fotografieren  seit den 1990er Jahren in Grönland. Wie kam es zu ihrem ersten Projekt dort?

Ich war fasziniert von der Geschichte der Mutter des Meeres, “Sassuma Arnaa”, einer der bekanntesten grönländischen Mythen. Sie inspirierte mich dazu, 1995 zum ersten Mal nach Grönland zu reisen. Ich verliebte mich in die einzigartige Natur, zum Beispiel in die Eisberge. Seit 1995 reise ich regelmäßig nach Grönland, um die arktische Landschaft und ihre Menschen zu fotografieren.

Sie sagen, dass die Geschichte der Mutter des Meeres Sie dazu inspiriert hat, nach Thule zu reisen. Wie lautet die Geschichte?

Diese Geschichte variiert von Ort zu Ort und dies ist eine Version der Geschichte:

Sassuma Arnaa” lebte von klein auf mit ihrer Familie in der Arktis. Viele Inuit-Männer wollten Sassuma Arnaa zur Frau nehmen und baten ihre Eltern um Erlaubnis, sie zu heiraten. Aber Sassuma Arnaa lehnte sie alle ab. Sie lehnte weiter ab, bis ein unbekannter, aber gut aussehender Mann zu Besuch kam. Der Mann versprach, sich gut um sie zu kümmern und sie willigte ein, seine Frau zu werden. Im Anschluss nahm er sie mit in sein Haus auf einer Insel.

Sassuma Arnaa entdeckte bald, dass sie von dem Mann betrogen worden war. Dieser war nämlich in Wirklichkeit ein Vogelgeist und sie lebte nun bei den Vogelmenschen. Mit Hilfe ihres Vaters versuchte sie daraufhin zu fliehen. Doch als ihr Mann, der Vogel, zurückkehrte und sah, dass seine Frau ihn verlassen hatte, wurde er sehr wütend. Er schlug mit den Flügeln, um einen Sturm zu entfachen. Aus Angst, sein Leben zu verlieren, versuchte Sassuma Arnaas Vater, seine Tochter ihrem Mann zurückzugeben und warf sie ins Meer. Sassuma Arnaas klammerte sich an einer Seite des Bootes fest, woraufhin ihr Vater ihr die Finger abschnitt. Ihre Finger fielen ins Meer und wurden zu Robben, Walen, Walrossen und anderen Meerestieren. Sassuma Arnaa fiel auf den Grund des Meeres und wurde zu seiner Göttin, der Mutter des Meeres. Sie kontrolliert seither alle Meerestiere.

Es heißt, dass Sassuma Arnaas Zorn und Wut auf die Menschen die Ursache für die Stürme und die heftige See in der Arktis ist. Um Sassuma Arnaa zu besänftigen und sicherzustellen, dass sie die Inuit mit Tieren versorgt, müssen die Schamanen ihr Haus auf dem Meeresgrund besuchen, um sie zu besänftigen und ihr Haar von allem Schmutz zu befreien.”

Tiina Itkonen. "Sunset, Savissivik", 2016. From the series "Piniartoq". Archival pigment print, framed. 80 x 120 cm. © the artist. Courtesy: Persons Projects.

Was haben Sie über die Menschen und die Umgebungen, die Sie fotografiert haben, gelernt?

Ich habe Respekt vor der Lebensweise der Inuit gewonnen. Sie leben im Einklang mit der Natur und wissen, wie man in kalten Klimazonen überlebt. Sie nehmen sich vom Land und vom Meer, was sie zum Überleben brauchen und teilen es mit anderen. Ihre Beziehung zu ihrer Umwelt vermittelt ihnen ein umfassendes Verständnis für die beheimaten Tiere und die Natur.

Ich habe viel Zeit mit den Inuit in Nordwestgrönland verbracht. Sie leben in Abhängigkeit vom Wetter und den Jahreszeiten. Wenn das Wetter es zulässt, gehen die Männer auf die Jagd, zum Fischen oder die Familien reisen in ein benachbartes Dorf, um Verwandte zu besuchen. Bei schlechtem Wetter bleiben alle zu Hause, die Hubschrauber und Flugzeuge bleiben am Boden und die Boote im Hafen. Die Leute sagen “Immaqa aqagu…” – was so viel bedeutet wie „vielleicht morgen“. Einmal wartete ich wegen des schlechten Wetters eine Woche lang auf den Flug von Qaanaaq nach Ilulissat.

Tiina Itkonen. "On Sea Ice 01, Qaanaaq", 2019. From the series "Piniartoq". Archival pigment print, framed. 80 x 110 cm. © the artist. Courtesy: Persons Projects.

Tiina Itkonen. "Meqo and Malu washing William, Savissivik", 2018. From the series "Piniartoq". Archival pigment print, framed. 60 x 80 cm. © the artist. Courtesy: Persons Projects.

Sie haben einmal gesagt, dass die Langsamkeit für Ihre Arbeit wichtig ist. Können Sie mehr darüber erzählen?

Ich habe früher für finnische Zeitschriften fotografiert und hatte immer das Gefühl, gehetzt zu werden. Jetzt, wo ich allein arbeite, kann ich mir so viel Zeit lassen, wie ich will. In kleinen Siedlungen ist niemand in Eile. Man hat so viel Zeit wie man braucht, um all seine Anliegen und Dinge zu erledigen. An diesen langsamen Rhythmus kann ich mich gut anpassen. Bei meinem ersten Besuch bei einem Kunden mache ich nicht immer direkt Fotos, sondern zu Beginn wird meist etwas Tee getrunken und Geschichten ausgetauscht. Die Inuit sind wie eine große Familie, sie sind meist alle miteinander verwandt, sodass jeder viel über andere und seine eigene Familie zu erzählen hat. Die Geschichten sind meist sehr interessant.

Können Sie Ihren Arbeitsprozess erläutern? Vor allem, was für Techniken Sie verwenden? Entwickeln Sie die Bilder vor Ort oder erst wenn Sie zu Hause in ihrem Studio sind? Wie wählen Sie die Fotos aus? Wann sehen Sie das Ergebnis Ihrer Arbeit zum ersten Mal?

Heutzutage verwende ich eine Digitalkamera, damit ich die Dateien nach der Aufnahme durchsehen kann. Wenn ich wieder zu Hause bin, sehe ich mir die Dateien mehrmals an und mache Abzüge im A4-Format, bevor ich die endgültigen Bilder für die Ausstellung auswähle. Früher, als ich noch analoge Kameras benutzte, habe ich den Film zu Hause entwickelt. Es war immer ein aufregender Moment, den Film zum ersten Mal live zu sehen.

Wann fotografieren Sie am liebsten? Gibt es bestimmte Tageszeiten (oder Jahreszeiten), die Sie bevorzugen?

Meine Lieblingszeit für Reisen nach Grönland ist der April. In Nordgrönland ist das Meer dann noch gefroren. Zudem gibt es zu dieser Jahreszeit mehr Tageslicht und es ist nicht mehr ganz so kalt. Dennoch mag ich es, wenn es bewölkt ist, da die Sonne manchmal zu hell sein kann. Im Sommer fotografiere ich gerne mitten in der Nacht, weil es dann 24 Stunden lang hell ist.

Tiina Itkonen. "Qeqertarsuaq, Qaanaaq", 2019. From the series "Piniartoq". Archival pigment print, framed. 80 x 110 cm. © the artist. Courtesy: Persons Projects.

Da Sie Eis- und Schneelandschaften sowie das Leben der Menschen in diesen Umgebungen fotografieren, ist Ihr Langzeitprojekt, das die Veränderungen der letzten Jahrzehnte dokumentiert, unweigerlich ein Beitrag zum Diskurs über den Klimawandel und auch zu geopolitischen Fragen und Diskussionen. Spielen diese Themen bei Ihren Reisen eine Rolle? Wie äußern sich diese Veränderungen?

Als ich in den 90er Jahren in Grönland zu arbeiten begann, war der Klimawandel noch kein Thema. Jetzt schmilzt der gefrorene Norden.

Mein laufendes Projekt “Piniartoq”, eine Zusammenarbeit mit der Polarforscherin Dr. Kristin Laidre und der Schriftstellerin Susan McGrath, beleuchtet die Auswirkungen des Klimawandels auf Eisbären, Subsistenzjäger und Inuit-Gemeinschaften in Grönland.

Vor zehn Jahren erzählte mir ein Inuit-Jäger: “In den 1990er Jahren war das Meer neun Monate lang von Eis bedeckt und es war zwei Meter dick. Jetzt ist das Meer nur noch die Hälfte dieser Zeit zugefroren und das Eis ist nur noch 30 Zentimeter dick.” Das Meereis in Grönland verschwindet rapide und schrumpft in jedem Jahrzehnt um etwa zehn Prozent. Wissenschaftler sagen voraus, dass die Arktis bis Mitte des Jahrhunderts im Sommer weitgehend eisfrei sein wird.

Der Verlust des Meereises stellt eine ernste Bedrohung für Eisbären und andere arktische Tiere dar. Er bedroht auch die traditionelle Lebensweise der Inuit. Die jahrhundertealte Kultur der Subsistenzjagd auf dem Eis ist bereits in Mitleidenschaft gezogen. Die Jäger treffen jetzt auf mehr offenes Wasser. Sie sind zunehmend auf Boote angewiesen. Ihre Hundeschlittenrouten sind verschwunden und sie können die Gebiete, in denen sie früher auf dem Meereis jagten, nicht mehr erreichen. Das Jagen auf dem Eis ist gefährlicher geworden. Es ist möglich, dass diese Lebensweise für immer verloren ist.

Seit dem 25. September läuft im Museum Sinclair-Haus, Bad Homburg, Germany die Ausstellung Eternal Ice. Sie können sie noch bis zum 12. February 2023 besuchen.

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