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Kuss Proteste – Queere Intimität als politische Praxis in der Kunst

Han Vogel

Camilo Godoy, AMIGXS (Self-portrait with Brendan, Carlos, and Jorge), 2017. Installation view at night of billboard produced by the International Studio & Curatorial Program (ISCP) at the Southeast corner of Ninth Avenue and 37th Street, Manhattan. Courtesy of the artist; PROXYCO Gallery, New York; and Dot Fiftyone Gallery, Miami.

Bild: Camilo Godoy, AMIGXS (Self-portrait with Brendan, Carlos, and Jorge), 2017. Installation view at night of billboard produced by the International Studio & Curatorial Program (ISCP) at the Southeast corner of Ninth Avenue and 37th Street, Manhattan. Courtesy of the artist; PROXYCO Gallery, New York; and Dot Fiftyone Gallery, Miami.

“Kuss Proteste – Queere Intimität als politische Praxis in der Kunst” beschäftigt sich mit der wirkmächtigen Rolle der Kunst bei der Darstellung von queerer Intimität als Form des politischen Widerstands.

Han Vogels Essay beleuchtet verschiedene Beispiele für die künstlerische Auseinandersetzung mit queerer Zärtlichkeit und Privatsphäre, die sich in einen öffentlichen politischen Akt verwandelt. Künstler*innen nutzen ihre Arbeiten, um mutige Aussagen über queere Realitäten und Intimität zu machen und kommentieren politische, kulturelle und historische Kontexte, die ihre Erfahrungen prägen.
Die Bedeutung der queeren Intimität als politische Praxis ist mit der einzigartigen Perspektive der Künstler*innen verwoben, die von Race, Geschlecht, Geografie und Klasse beeinflusst wird. Die Vielfalt der Kunstwerke und Perspektiven dient als Quelle der Heilung, des Mutes, des kollektiven Zusammenhalts und als mächtige politische Waffe auf dem Weg zur Emanzipation von Queer.

Was ist ein Kuss? Zwei Lippenpaare, die sich treffen. Eine Begegnung zweier Personen. „Küsse sind der Liebe Sprache“, schrieb der deutsche Dichter Johann Georg Keil. Nichts ist so romantisch verklärt und mit verschiedenen Bedeutungsebenen aufgeladen wie ein Kuss.

Ein Kuss kann aber auch widerständig sein. Besonders dann, wenn die zwei Körper, die sich küssen, nicht dem heteronormativen Gesellschaftsbild entsprechen. In der LGBTQIA+ Community ist der Kuss schon fast zu einem standardisierten politischen Instrument geworden, um auf Protesten ein Zeichen zu setzen.

Das Zeigen von queerer Intimität im öffentlichen Raum untersteht oftmals einem Risiko. Homophobe- und transphobe Beschimpfungen, Gewalt, in manchen Regionen Festnahmen und sogar der Tod können die Folge eines öffentlichen Kusses sein.

Im Jahr 2017 zeigte der in New York lebende kolumbianische Künstler Camilo Godoy in Self-portrait with Brendan, Carlos, and Jorge from AMIGXS, No. 1,  auf einer überlebensgroßen Werbetafel vier Männer, die sich in einem innigen Kuss vereinen. Ein Aufruhr, ein Protest, um sich gegen (politische) Stigmatisierung und Diskrimierung von Homosexualität zu wehren, die schwule Männer während der AIDS Pandemie in den 1980er Jahren erlebten.

War die Darstellung von queeren Lebensrealitäten und Intimität lange Zeit nur für wenige Augen bestimmt, avanciert heute die künstlerische Auseinandersetzung mit queerer Zärtlichkeit und Privatheit zu einem öffentlichen politischen Akt. Im Zuge der queeren Emanzipation, die ab den 1970er Jahren weltweit ihre Wellen schlug, häufen sich die sichtbaren Beispiele in denen jeder Kuss, jede Umarmung, jede Offenbarung der eigenen queeren Identität, die in Kunstwerke übersetzt werden, zu einem Kommentar, einer Art des Widerstands werden. Und dieser Kommentar ist auch immer eingebettet in politische, kulturelle und historische Kontexte, die auch für die Position der Künstler*innen selbst innerhalb dieser Räume stehen können.

Camilo Godoy, AMIGXS (Self-portrait with Brendan, Carlos, and Jorge), 2017, archival pigment print. Courtesy of the artist; PROXYCO Gallery, New York; and Dot Fiftyone Gallery, Miami.

War die Darstellung von queeren Lebensrealitäten und Intimität lange Zeit nur für wenige Augen bestimmt, avanciert heute die künstlerische Auseinandersetzung mit queerer Zärtlichkeit und Privatheit zu einem öffentlichen politischen Akt.

Diese politische Wirkungsmacht wird auch und insbesondere  im Werk des*der südafrikanische*n Fotograf*in Zanele Muholi evident. Aufgewachsen zwischen dem Südafrika des Apartheids- und des sogenannten Post-Apartheids Regime, stehen Muholis Fotografien für die Sichtbarmachung der Schwarzen queeren Community in Südafrika.

2021/2022 wurde das Gesamtwerk Muholis im Berliner Gropius Bau gezeigt. Die Serie Being eröffnete die Ausstellung. Ein Raum, in dem Bilder von Muholi selbst, Freund*innen, Liebhaber*innen und Wegbegleiter*innen in Momenten des sorglosen Beisammenseins zu sehen waren: Sie strahlen, wirken frei und selbstbewusst. Die Fotografien Katlego Mashiloane and Nosipho Lavuta, Ext. 2, Lakeside, Johannesburg (2007), zeigen  beispielsweise ein lesbisches Paar in ihrem Wohnhaus. Sie stehen zusammen in einem Zuber und waschen sich gegenseitig, in einem weiteren Moment fotografiert Muholi die beiden, wie sie gemeinsam Arm in Arm auf dem Boden sitzen und ausgelassen lachen. 

Muholi arbeitet seit 2006 an der Serie Being und fotografiert queere Schwarze Personen, hauptsächlich lesbische Paare,  in deren Häusern und privaten Räumen.Zum einen soll dieser häusliche Kontext auf neue Formen von Wahlverwandtschaft und care verweisen, zum anderen sind private Rückzugsorte in der queeren Community von besonderer Bedeutung: Der private Raum kann ein safe space sein, in dem Sexualitäten und Geschlechteridentitäten ausgelebt werden können ohne das hier Diskriminierung und Gewalt drohen: Doch was passiert wenn diese Privatheit öffentlich wird, ein großes Publikum zur Zeug*innenschaft dieser alltäglichen Intimität wird?

Muholis fotografische Arbeiten verweisen auf einen kollaborativen Prozess zwischen Fotograf*in, den fotografierten Personen und den Betrachtenden:
Muholi bricht hier bewusst mit patriarchalen und kolonialisierten Blickstrukturen. Anstelle eines „stummstellgestellten“ anonymisierten und objektifizierten Schwarzen Körpers sehen wir Teilnehmende des fotografischen Prozesses, die aktiver Part der Bildwerdung sind. Durch diese Art der Partizipation im fotografischen Akt erfahren die Teilnehmenden Heilung: Sich selbst zu sehen, sich selbst ins Bild zu bringen, mutig zu sein und sich als etwas Kollektives wahrzunehmen. Diese Art der Selbstdefinition sei die einzige Möglichkeit sich von Fantasien anderer lösen zu können, die einen bei lebendigen Leibe verspeisen können, so die Schwarze und lesbische Denkerin Audre Lorde, die mit „Sister, Outsider“ in den 1970er Jahren ein bahnbrechendes Beispiel für intersektionale Denkweisen lieferte. Sich sichtbar zu machen, das bedeute, die größte Verwundbarkeit zu zeigen, sei aber auch die wichtigste Quelle von Stärke und Mut, so Lorde.

Diese Bilder von Schwarzen queeren Körpern, die ihre Zuneigung ohne Angst vor der Kamera präsentieren, können auch gleichsam für Betrachtende heilsam sein. Je nachdem welche Position der betrachtende Körper einnimmt, ob er Schwarz ist und/oder queer ist kann er sich selbst in diesen Bildern sehen und ein Gefühl von Verbundenheit aufbauen.

Muholi selbst versteht sich viel mehr als „visuelle*r Aktivist*in denn als Fotograf*in. Die Sichtbarmachung der Privatheit und des Alltäglichen ist als politischer Akt gedacht. Damit steht Muholi in einer Linie mit Fotograf*innen wie etwa J.E.B. (Joan E.Biren), die ihre Kamera als ihr revolutionäres Werkzeug versteht. Das Fotobuch Eye to Eye. Portraits of Lesbians, das 1979 erstmals veröffentlicht wurde, ist ein Meilenstein auf dem Weg zur lesbischen Sichtbarkeit. J.E.B. liefert mit diesem Fotobuch ein visuelles Zeugnis des alltäglichen, privaten lesbischen Lebens. Wir sehen Lesben wie sie arbeiten, mit ihren Kindern spielen, auf Demonstrationen, alleine und mit Partner*innen. 

 Doch in der Darstellung des lesbischen Alltags blendet Intimität und Sexualität blendet J.E.B. meist aus. Muholi hingegen verwebt das Private, Bilder des familiären Zusammenseins und der gegenseitige Fürsorge mit Bildern von intimen und sexuellen Momenten. Die Darstellung von sexuellen Handlungen und queerer Zärtlichkeit gehört für Muholi zum festen Bestandteil des visuellen Aktivismus. Nach Muholi kann „Sinnlichkeit wenn Körper miteinander verbunden sind und in Verbindung treten, ein begrenztes Verständnis von Gender und Sexualität spreng[t]en.“ Die Darstellung von sexuellen Handlungen zwischen queeren Körpern, lebt aber auch von ihrer Alltäglichkeit. Es ist das „normale“ in queerer Intimität, was die politische Wirkungsmacht der Bilder ausmacht.

„Sinnlichkeit kann, wenn Körper miteinander verbunden sind und in Verbindung treten, ein begrenztes Verständnis von Gender und Sexualität sprengen.“

Zanele Muholi

Das Alltägliche von queerer Intimität ist auch eines der Hauptmotive des*der US-amerikanischen Künstler*in Jonathan Lyndon Chase. Ähnlich wie in Muholis Arbeit Liza I (2017) in der wir Muholi selbst nackt auf einem Bett liegend in inniger Umarmung mit einer Partnerin sehen, zeigt auch Chase Werk Two Men on Bed (2015) eine sexuelle Handlung zwischen zwei queeren Körpern in einem privaten Setting. In Malereien, Zeichnungen, Video- und Soundarbeiten beschäftigt sich Jonathan Lyndon Chase mit Schwarzen, queeren und genderfluiden Körpern in intimen Momenten und Momenten des Seins. Fast schwebend, ineinander fließend bewegen sich die Figuren in Räumen, die uns zunächst privat erscheinen: Wir sehen Schlafzimmer, Küchen, Badezimmer. Chase Arbeiten verweisen auf eine Verdoppelung des Intimen durch den zeichnerischen Gestus. Die Figuren sind mit zartem Strich aufs Papier gebracht. Doch die grelle Farbigkeit, der flächige Hintergrund und popkulturelle Hinweise, die sich in die Orte einschreiben, lösen diese Privatheit auf. Jonathan Lyndon Chase spielt mit den Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem und mit dem Selbst, das sich in diesen Sphären bewegt.

Queere Intimität als politische Praxis kann nie unabhängig vom Standpunkt der Künstler*innen gesehen werden. Sie ist immer in einem gesellschaftlichen Geflecht verwoben, in dem race, gender, geographischer Standpunkt und Klasse eine übergeordnete Rolle spielen. Die Vielfalt der Kunstwerke, die unterschiedlichen Sichtweisen auf queere Intimität, können als Quelle der Heilung, des Mutes, des kollektiven Zusammenhalts und als politische Waffe auf dem Weg zur queeren Emanzipation dienen.