Sabine Oelze und Marion Ritter hatten nie vor, das Audioarchiv Kunst zu gründen. Am Vorabend des 25-jährigen Jubiläums der Museumsinsel Hombroich, dem weitläufigen Kulturzentrum in Neuss auf über 60 Hektar Ackerland, hat das Duo sich hingesetzt, um den Künstler Gotthard Graubner zu interviewen. Der Maler lebte und arbeitete zu dieser Zeit in einer Residenz vor Ort. “Graubner kam ins Plaudern und wusste viele Anekdoten aus den Anfängen seiner künstlerischen Laufbahn zu erzählen”, erinnert sich Oelze. “Er merkte sich Namen, die heute nur noch Insider kennen.”
Er erzählte von der Galerie 22, dem 1957 von Jean-Pierre Wilhelm und Manfred de la Motte gegründeten Raum für zeitgenössische Kunst in Düsseldorf, in dem Fluxus und Informel ausgestellt wurden, und sprach auch über die großen Unterschiede zwischen der Szene damals und heute. “Es war faszinierend, ihm zuzuhören, Fragen stellen zu können und durch seine lebendige Erinnerung den Geist der damaligen Szene besser zu verstehen”, erklärt Ritter. “Wir hatten das Gefühl, dass diese Art, Kunstgeschichte direkt zu erleben, bisher gefehlt hat.
“Für Oelze und Ritter war dieses Interview mit Graubner die Initialzündung, und sein bedauerlicher Tod kurz darauf entfachte die Flamme, die zur Gründung des Audioarchivs Kunst führen sollte. Oelze erklärt: “Nach dem Interview dachten wir: ‘Das sind Stimmen, die man festhalten sollte!’ [Als] Graubner wenig später starb, wurde uns klar, dass diese Geschichten mit den letzten Zeitzeugen verschwunden waren.
“Seit 2017 sammeln die beiden nun sorgfältig eine Oral History der zeitgenössischen Kunstszene im Rheinland. Durch ihre Arbeit wurde ein breites Spektrum an Geschichten aus diesen frühen Tagen zutage gefördert, darunter auch Stimmen, die bisher übersehen oder überhört wurden. Anlässlich ihres Beitrags zur reichen Kunstgeschichte der Region haben wir uns mit Oelze und Ritter zusammengesetzt, um über die Zuverlässigkeit der Erinnerung, die Einzigartigkeit der Kunstszene und die nächsten Schritte des Audioarchivs Kunst zu sprechen.
Der Journalist Jürgen Tempel hat in seinem Buch “Verschwende deine Jugend” Stimmen zur Punkszene unter anderem in Düsseldorf gesammelt. Er spricht von “hundert verschiedenen Wahrheiten”, die er gesammelt hat. Werden Ihnen auch oft die gleichen Geschichten aus ganz unterschiedlichen Perspektiven erzählt? Was sagt das über die Zuverlässigkeit der Quellen aus? Und was bedeutet das für die Methode der Oral History?
SO: Die Anfänge des zeitgenössischen Kunstmarkts im Rheinland sind ja hinlänglich dokumentiert, wie in dem großartigen Buch „Die 60er Jahre. Kölns Weg zur Kunstmetropole. Vom Happening zum Kunstmarkt“. In der Vielzahl der Gespräche, die wir geführt haben, entstand für uns aber ein sehr viel breiteres Bild dieser ersten Jahre. Es gab neben dem Kunstmarkt eben auch jede Menge Bewegungen, die gegen das Kommerzielle anarbeiteten. Da fällt mir zum Beispiel Fritz Heubach ein, der ab 1967 die Zeitschrift „interfunktionen“ herausgab. Oder auch Gabor Altorjay, Chris Reinecke, Erinna König, deren Kunst extrem aktivistisch und politisch motiviert war.
Natürlich verschwimmen manchmal die Fakten in der Rückschau. Wenn sich Leute heute an etwas erinnern, was damals passiert ist, kommt es vor, dass etwas verfälscht dargestellt wird. Das ist natürlich ein Grundproblem der Methode, die wir anwenden, aber man muss auch sagen, wenn man den Leuten damals das Mikro unter die Nase gehalten hätte, wäre es auch höchst subjektiv gewesen. Andererseits kommen vielen unserer Gesprächspartner*innen erst die Erinnerungen zurück, wenn sie mit uns reden. Wären wir nicht da, gäbe es diese womöglich gar nicht. Außerdem versuchen wir auch, zwischen den Zeitzeug*innen Verbindungen herzustellen. Wenn Rudolf Zwirner seinen Weg erzählt kommen eben auch Benjamin Buchloh und Kasper König zu Wort, die beide bei ihm in die Lehre gegangen sind. Wir versuchen, uns von möglichst vielen Seiten anzunähern, so dass sich die Interviews gegenseitig ergänzen.
MR: Die Oral History ist eine sehr subjektive Methode der Geschichtsschreibung. Sie ist damit aber natürlich nicht weniger wahr als die offizielle Erzählung, etwa die der Kunstgeschichte. Das Besondere der mündlich überlieferten Geschichte ist, dass sie auch Menschen zu Wort kommen lässt, die bislang übersehen bzw. überhört wurden, etwa weil sie Randfiguren waren oder weil, je nach Zeit, manche Perspektiven einfach präsenter sind als andere. Mit zeitlichem Abstand kann sich dieser Blick auf den Einfluss Einzelner auf das Geschehen ja oft noch einmal verändern. Es ist wichtig, dass auch diese Erzählung aus der Rückschau einen Weg in die Forschung findet.
Wie geht ihr vor, wenn ihr ein Interview plant und in der Interview-Situation selbst?
SO: Wir versuchen uns bestmöglichst vorzubereiten, gehen in Bibliotheken wie die Kölner Museumsbibliothek im Museum Ludwig, recherchieren in digitalen Archiven oder hören auch bereits geführte Gespräche nochmal an, um die Zeitzeug*innen damit zu konfrontieren, was andere über bestimmte Ereignisse erzählt haben. In der Interviewsituation selbst nehmen wir uns sehr viel Zeit, hören genau zu. Da wir uns gut vorbereiten, können wir manchmal Datenlücken oder Personennamen ergänzen, das hilft dann, sich zu erinnern.
DAS BEMERKENSWERTE AN DER MÜNDLICHEN ÜBERLIEFERUNG IST, DASS SIE MENSCHEN ZU WORT KOMMEN LÄSST, DIE BISHER ÜBERSEHEN ODER ÜBERHÖRT WURDEN.
Wieviele Zeitzeugen habt ihr inzwischen interviewt? Wer sind eure Protagonist*innen?
MR: Wir haben bislang knapp 60 Gespräche geführt, darunter sind Interviews mit Künstlern, Galeristen, Sammlern, Kritikern, Verlegern, Filmemachern, Musikern und Wegbegleiter, die das damalige Geschehen teilweise auch ein vom Rande des Kunstkontextes aus erlebt haben. Wir wählen unsere Protagonisten gezielt aus, um ein möglichst breites Bild der Szene aufzuzeigen. So sind bekannte Namen wie Konrad Klapheck, Daniel Spoerri und Ulrike Rosenbach darunter aber auch unbekanntere wie Gábor Altorjay, Henning Brandis oder Erinna König. Klaus Honnef spricht aus der Perspektive des Kritikers und Ausstellungsmachers, Rudolf Zwirner erinnert sich an die Anfänge von Documenta und Kunstmesse. Renate Gruber hat mit ihrem Mann zeitlebens künstlerische Fotografie gesammelt und erzählt uns von ihrer gemeinsamen Leidenschaft, Benjamin Buchloh stand in den 60er Jahren mit einem Bein in Köln und mit dem anderen in den USA und kann von diesen beiden Perspektiven berichten.
SO: Nachdem wir uns in einer ersten Phase auf die 50er bis 70er Jahre konzentriert haben, sprechen wir jetzt auch verstärkt mit Vertreterinnen und Vertretern der 80er Jahre.
Wisst ihr, ob das Archiv für wissenschaftliche Forschung verwendet wird? Was für Projekte haben sich daraus ergeben?
SO: Wir haben schon etliche Zuschriften bekommen von Studierenden, die sich für ihre Forschungen in unserem Archiv bedienen. Außerdem wurden wir angefragt, ob wir ein ähnliches Archiv für die Klangkunst anlegen wollen würden, was wir aber abgelehnt haben, weil wir noch einige Zeit mit unseren Interviews für das Audioarchiv Kunst beschäftigt sind.
MR: Viele Kunsthistoriker*innen und Fachrichtungen wie die Kunstmarktforschung schätzen unsere Arbeit. Wir wissen aber auch, dass unser Angebot viele Menschen anspricht, die sich einfach für Kunst oder die Geschichte des Rheinlandes interessieren. Die Audiofiles sind ja im Netz frei verfügbar und es macht vielen Spaß, diesen Erinnerungen zu lauschen.
Das Besondere am Rheinland sind die hohen Standards, die hier von Anfang an gesetzt wurden.
Ihr habt inzwischen so viele Stimmen und Geschichten gehört. Was macht die Kunstszene im Rheinland für euch aus?
MR: Es sind oft Einzelne, die mit ihren Enthusiasmus und ihrem Engagement etwas bewirkt haben. Deren Freude und Glaube an Kunst, ihr Wunsch, Neues voran zu bringen, wirkten ansteckend, und so wurden immer wieder Dinge möglich. Eine dichte Szene an Künstlern, Ausstellungsmachern, Galeristen, Sammlern und vielen mehr haben in den 60er Jahren einen wahren Sog bewirkt, der bis in die Kunstszene New Yorks zu spüren war.
Auch Institutionen wie die Kunstakademie oder der WDR waren geprägt von herausragenden Persönlichkeiten. Und ohne einen absolut kunstbegeisterten Kulturdezernenten wie Kurt Hackenberg hätte sich Köln nicht in dieser Form als Kunststandort hervor gebracht.
SO: Interessant ist auch, dass es die eine Kunstszene im Rheinland gar nicht gibt. Zu jeder Zeit gab es parallele Entwicklungen, die sich zum Teil überschnitten oder auch nicht. Auf jeden Fall in Düsseldorf war einer der wichtigsten Taktgeber der Anfangszeit Joseph Beuys. Wegen ihm kamen unzählige Künstlerinnen und Künstler ins Rheinland. In Köln veränderte der Kunstmarkt, der 1967 zum ersten Mal stattfand, die Kunstszene. Was das Rheinland ausmacht, sind die hohen Maßstäbe, die hier von Anfang an angelegt werden. Man misst sich auf internationaler Ebene. Es gibt ganz klare Kriterien, nach denen Kunst beurteilt wurde. Das kam wahrscheinlich auch daher, dass es einen sehr engen Austausch mit den USA gab und das Rheinland in der gleichen Liga spielen wollte.
Die Frauen beschreiben sehr detailliert, wie sehr sie kämpfen mussten, weil sie von der offiziellen Riege nicht ernst genommen wurden.
Welche Protagonist*innen und auch welche künstlerischen Arbeiten haben euch besonders beeindruckt und warum?
SO: Da kommen die Frauen ins Spiel, die immer einen härteren Stand hatten. Rissa zum Beispiel, Künstlerin und Frau von K.O. Goetz, die in der gleichen Klasse war wie Richter und Polke. Oder Ulrike Rosenbach und Birgit Hein. Sie hatten noch mit vielen Stereotypen zu kämpfen. Birgit Hein wurde vorgehalten, sie müsse das Geld verdienen, um ihren zukünftigen Ehemann, Wilhelm Hein, einen Experimentalfilmer, auszuhalten. Dann wurde sie trotzdem gegen den Widerstand ihrer Eltern Künstlerin. Beeindruckend war auch das Zusammentreffen mit Chris Reinecke in ihrer Wohnung in Düsseldorf. Wie sie sich damals politisch engagierte und Demonstrationen gegen Mietwucher und für Geschlechtergerechtigkeit organisierte! Das Ganze kulminierte in einem spektakulären Happening auf der Pressekonferenz der documenta 4 in Kassel, bei der sie den damaligen Leiter Arnold Bode küsste.
Frauen haben nochmal eine andere Wahrnehmung und schildern sehr ausführlich, wie sehr sie oft kämpfen mussten, weil sie von der offiziellen Riege nicht ernst genommen wurden.
MR: Ich kann sagen, dass mich alle Gesprächspartner mit ihren Erzählungen an der einen oder anderen Stelle beeindrucken. Es ist faszinierend, wie lebendig diese lange zurück liegenden Erlebnisse erinnert werden und wenn man beim Zuhören merkt, dass das Erlebte so prägend war. Spannend ist es auch, die Erinnerungen der Zeitzeugen zu hören, die bislang nur sehr selten öffentlich darüber gesprochen haben. Ursula Reppin etwa, die Frau von Rudolf Zwirner erzählt sehr eindrucksvoll von ihren Erlebnissen aus der Zeit, als sie mit ihrem damaligen Mann die Galerie Zwirner betrieben hat. Aber auch Walter König äußert sich zum ersten Mal sehr ausführlich über die Anfänge seiner Karriere.
Könnt ihr sagen, was aus der Zeit der 60er, 70er und 80er Jahre fortwirkt? Seht ihr Verbindungslinien zwischen dieser Zeit und heute?
SO: Alles baut aufeinander auf, es hätte die 80er-Jahre nicht ohne die 60er- und 70er-Jahre gegeben. Die hohen Qualitätskriterien, das Expertentum, das es hier gab, das hat alles mit der Geschichte des Rheinlands als Kunststandort zu tun.
Was sind eure Pläne für das Audio-Archiv? Wen wünscht ihr euch als nächsten Gast?
MR: Das Audioarchiv hat zwar nicht den Anspruch, komplett zu sein aber wir wünschen uns schon noch einige weitere, ausgewählte Sichtweisen auf das damalige Geschehen. Ich freue mich zum Beispiel auf ein Gespräch mit Erika Kiffl, die als Fotografin schon in den 60er Jahren zahlreiche Künstler im Rheinland, darunter Gerhard Richter, Gotthard Graubner oder Günther Uecker in ihren Ateliers portraitiert hat. Gemeinsam mit anderen Chronisten, wie Benjamin Katz gründete sie das Archiv künstlerischer Fotografie der rheinischen Kunstszene.
SO: Wir haben noch eine lange Liste abzuarbeiten. Katharina Sieverding steht z.B. auch noch aus. Wir wünschen uns, dass uns noch mehr Frauen ihre Erinnerungen mitteilen. Und natürlich wäre es schön, wenn die Corona-Pandemie uns nicht länger davon abhalten würde, viele unserer bereits mehrfach terminierten und wieder verschobenen Interviews zu führen. Die letzten zwei Jahre haben uns – wie viele andere auch – ziemlich ausgebremst.
Eure Interviewpartner*innen sprechen oft über die Bedingungen unter denen sie gearbeitet haben. Wie hat sich die Situation für Künstler*innen in der Region verändert? Und spielen die Vorgänger*innen für die heute jungen Künstler*innen eine Rolle?
SO: Der größte Unterschied ist die Menge – an Künstlern, an Galerien, an Kuratoren, die über die Jahre stark zugenommen hat. Anfangs gab es eine eingeschworene Gemeinde, man traf sich in den einschlägigen Kneipen und kämpfte für die gleiche Sache. Alles lief über persönliche Kontakte. Jetzt kämpft jeder für sich selbst, die Umsätze sind ins Gigantische gestiegen und stehen im Vordergrund. 1967 nahmen 18 Galerien am ersten Kunstmarkt im Gürzenich teil, insgesamt wurde eine Million Deutsche Mark umgesetzt, was damals eine Sensation war. Heute nehmen an der Art Cologne über 200 Galerien teil und der Preis für einziges Kunstwerk übersteigt schon mal eine Million Euro. Damals gab es die Achse Köln-New York, heute will die ganze Welt Zugang haben.
MR: Eine Karriere stand damals sicher nicht im Vordergrund. Es ging vielmehr darum, die Kunst voran zu bringen, starre Grenzen aufzubrechen, das Publikum herauszufordern, das Format Ausstellung, ja selbst den Verkauf von Kunst neu zu denken. Ich denke, dass in dieser Zeit vieles erreicht wurde, wovon der Kunstbetrieb heute auch profitiert. Aber natürlich kann diese Erfolgsgeschichte und deren Wegbereiter auch eine Bürde sein.